“Die Frage ist: Wie entwickeln wir eine Gesellschaft, in der Freiheit und Gerechtigkeit durch Solidarität versöhnt sind?“

In meinem Beitrag zur EL-Konferenz zum Jahrestag der Oktoberrevolution zitiere ich eine Vortrag des damaligen Vorsitzenden der Partei der Europäischen Linken, Prof. Dr. Lothar Bisky, vor der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas am 11. September 2009. Bei der Bearbeitung stellte ich fest, dass dieser aus meiner Sicht wichtige Vortrag zwar publiziert, aber schwer zugänglich ist. Deswegen dokumentiere ich ihn hier noch einmal.

Sozialismus in Europa: Erfahrungen und Lehren im 20. Jahrhundert sowie Perspektiven im 21. Jahrhundert

Lothar Bisky (Quelle: Wikipedia)

Liebe Genossinnen und Genossen,

lasst mich zunächst – auch im Namen der Delegation der Europäischen Linken – meinen Dank zum Ausdruck bringen für die Möglichkeit, Euch meine Sicht auf und meine Gedanken zur Erfahrungen und Perspektiven des Sozialismus im 21. Jahrhundert darzulegen. Das ist ein Thema, das sicher für einen fruchtbaren Austausch zwischen der Partei der Europäischen Linken und der Chinesischen Kommunistischen Partei überaus geeignet ist. Daher hoffe ich, auch sowohl Eure Sicht auf die Entwicklungen in Europa wie auch Eure Erfahrungen beim Aufbau Chinas kennenzulernen und freue mich auf einen interessanten Austausch.

lm 20. Jahrhundert wurde erstmals in Europa auf längere Sicht der Versuch unternommen, die von Marx und Engels begründeten Ideen einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung funktioniert und allen Menschen ihren Anteil am Wohlstand in der Welt und die Möglichkeit auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit garantiert, zu verwirklichen. Es ist unbestritten, dass dieser Versuch überaus legitim war, zumal wenn er, wie in meiner Heimat, als eine mögliche Antwort auf die Katastrophe des 2. Weltkrieges in Angriff genommen wurde.

Umso mehr haben wir uns mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass der Staatssozialismus in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts ausnahmslos gescheitert war- auch und gerade in seinem Mutterland, der Sowjetunion.

1989/90 ist auch geopolitisch ein entscheidender Ausgangspunkt der Analyse. Der Zusammenbruch des Staatsozialismus in Ost- und Mitteleuropa ist keine innereuropäische Angelegenheit, sondern hat welthistorische Wirkungen, die bis heute spürbar sind. Lasst uns zunächst einen Blick auf die Ausgangsbedingungen des realsozialistischen Versuchs werfen.

Dort wo seine Verwirklichung mit der mit dem Sieg der bolschewistischen Revolution zuerst in Angriff genommen wurde – in Russland und den Ländern der späteren Sowjetunion – waren die Bedingungen für die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft denkbar schlecht. In seinem größten Teil war das Territorium der Sowjetunion im Vergleich zu den kapitalistischen Staaten wenig entwickelt. Weithin herrschten noch feudale Verhältnisse. Überdies war das Land vom Krieg geschwächt. Dazu kam, dass auf den Sieg der Revolution unmittelbar der Bürgerkrieg und der Angriff der Entente folgten, so dass die schiere Machtsicherung zunächst die Politik der Kommunisten prägte. Machtsicherung, wie sie ja auch von Marx und Engels theoretisch begründet und von Lenin noch einmal deutlich unterstrichen worden war, sollte auch bis zum Zusammenbruch das Leitmotiv der sozialistisch/kommunistischen Parteien in den staatssozialistischen Ländern sein.

Aus diesen Ausgangsbedingungen heraus gelang der Sowjetunion – und vergleichbar später bei unterschiedlichen Ausgangsbedingungen den anderen sozialistischen Staaten in Europa – nach der Konsolidierung des sozialistischen Gesellschaftssystems ein bemerkenswerter ökonomischer Aufschwung. Er war die Grundlage für bemerkenswerte Erfolge in Wissenschaft, Technik und Kultur und wurde begleitet von einer spürbaren Erhöhung des Lebensstandards. Nicht ohne Grund blicken heute nicht wenige Menschen in Osteuropa auf den Sozialismus als eine Zeit vergleichsweise hohen materiellen Wohlstands und in mancher Hinsicht auch kultureller Blüte zurück. Auch wurde eine gewisse soziale Homogenität trotz unterschiedlicher Lebensweisen auf dem Land, in der Stadt, bei Arbeitern oder intellektuellen als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit verstanden.

Dennoch ist festzuhalten, dass der Kampf um den Machterhalt und die dazu gebrauchte Gewalt – erinnert sei nur beispielhaft an die Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft – das neue Gesellschaftssystem zwar einerseits anfangs in seiner Existenz sicherten, andererseits seine Entwicklung auch bald schon hemmten.

Solange der Erfolg – der wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische und kulturelle Aufschwung – den Herrschenden Recht gab, solange unterstützte die Mehrheit der Menschen das neue Gesellschaftssystem, auch wenn sie sich vielleicht persönlich nicht frei dafür entschieden hatten. Doch als politische Bevormundung und staatlicher Dirigismus begannen, die Entwicklung der Gesellschaft zu hemmen, als der Lebensstandard stagnierte und auf das geistig-kulturelle Leben sich ein Mehltau legte, wurde immer offensichtlicher, dass die Fassade des Systems nur durch Raubbau an der ökonomischen Substanz und auf Kosten einer gesunden Umwelt aufrecht erhalten wurde. Die Menschen begannen sich vom Staat und den ihn tragenden Parteien abzuwenden und dem in der Systemauseinandersetzung offenbar erfolgreicheren Gesellschaftsmodell zuzuwenden.

Eine Gesellschaftsordnung, die von ihrer Grundidee her auf das bewusste Mittun wenn nicht aller, so doch der übergroßen Mehrheit ihrer Menschen angewiesen ist, kann das mit Zwang nur eine Zeitlang kompensieren. Als diese Einsicht in den Führungen der Staatsparteien Einzug hielt war es zu spät. Was als vorsichtige Öffnung von Ventilen gedacht war, konnte den Druck der notwendigen Erneuerung nicht mehr in konstruktive Bahnen für einen erneuerten Sozialismus lenken, sondern zog einen Dammbruch nach sich, der selbst die kalten Krieger aus dem Westen überraschte.

Die ehemaligen Staatsparteien mussten sich mit den Ursachen ihres Scheiterns auseinandersetzen. Auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED-PDS im Dezember 1989 fasste unser leider viel zu früh verstorbener Genosse Michael Schumann beispielhaft zusammen:

„Die Symptome dieses Machtmissbrauchs liegen inzwischen offen zutage: Konzentration der Macht in den Händen eines arroganten Alleinherrschers, Steuerung der Wirtschaft durch eine Kommandozentrale, der es an Verständnis für elementare Bedürfnisse der produktiven und sozialen Bereiche der Gesellschaft und für die Lebensqualität der Bevölkerung fehlte, Reglementierung und bürokratische Zentralisation von Kultur, Wissenschaft und Bildung, die kritische Geister außer Landes trieb, politische Entmündigung der Bürger unserer Republik und Kriminalisierung Andersdenkender, Verwandlung der Medienlandschaft in eine trostlose Informationswüste und eine widerliche Hofberichterstattung, Ausgrenzung der Parteibasis aus allen innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen.

lm Umfeld dieses Machtmissbrauchs breitete sich der Morast der Korruption und der persönlichen Bereicherung aus. Unerträgliche Herrscherallüren einer Führungsgruppe und mancher Nacheiferer auch auf unterer Ebene haben unsere Partei in Verruf gebracht. Zwischen Führung und Volk, zwischen Parteispitze und Parteibasis tat sich eine tiefe Kluft auf. Aus einzelnen und aus Gruppen, die auf Veränderungen drängten, wuchs eine umfassende Volksbewegung. Sie forderte ihre Rechte auf der Straße ein, als das Land an einer Massenflucht zu Grunde zu gehen drohte.

Die Bewegung zur Erneuerung des Sozialismus ist ihrem Wesen nach eine revolutionäre Bewegung. Die Politbürokraten verunglimpften den Aufbruch des Volkes als Konterrevolution und wollten ihn mit Gewalt unterdrücken. In Wirklichkeit waren sie in dieser Situation die Konterrevolutionäre.“

Aber auch die tiefer, in der Geschichte der kommunistischen und sozialistischen Bewegungen liegenden Ursachen – ich hatte oben versucht, sie zu skizzieren – wurden damals, 1989/1990, analysiert. Das war auch notwendig. Denn durch die genannten Deformationen und die Verbrechen des Stalinismus waren nicht nur die schuldigen Politiker und ihre Parteien, sondern die sozialistische Idee als solche beim Volk diskreditiert. In der zitierten Rede bekannte Michael Schumann für die gesamte Partei: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“.

Dieser Gründungskonsens galt auch 2004 bei der Gründung der Partei der Europäischen Linken in Rom als fortgesetzte Aufgabe der Aufarbeitung der Geschichte der sozialistischen Bewegung in Europa.

Sozialistinnen und Sozialisten in den ehemals staatssozialistischen Ländern zogen 1989/90 – sofern sie sich nicht enttäuscht vom Sozialismus abwandten – in großen Teilen eine Lehre: Bürgerliche und soziale Freiheitsrechte lassen sich nicht trennen, Freiheit und Gerechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Das eine ohne das andere führt zu einer deformierten Gesellschaft.

Der Zusammenbruch des staatssozialistischen Systems ließ auch die verschiedenen linken Parteien West-, Nord und Südeuropas nicht unberührt. Auch sie hatten unter In-Bezug-Setzung zum sozialistischen Lager existiert: Zum einen mussten sie sich selbst dazu in Bezug setzen, zum anderen wurden sie von den Gesellschaften ihrer Länder im Bezug zu den Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa gesehen. Sie fanden auf diese Herausforderung durchaus unterschiedliche Antworten. Von fast kritikloser Verteidigung bis kritischer Auseinandersetzung, aus der eine schöpferische Weiterentwicklung linker Theorie und politischer Praxis resultierte, reichten die Ergebnisse.

Noch etwas kam hinzu: In der Auseinandersetzung mit den kritischen Fragen, die ihnen in ihren Gesellschaften gestellt wurden, verbanden sie die „klassischen“ sozialistischen Positionen, denen vor allem auch parteipolitische Überlegungen folgten, mit den Ideen und Erfahrungen der so genannten „neuen sozialen Bewegungen“, mit ökologischen, feministischen und anderen emanzipatorischen Ansätzen. Dass ist ein Schatz an Erfahrungen, den sie in die Europäische Linke einbringen. Und wenn sich auch nicht alle Mitglieder der europäischen Linken als Sozialistinnen und Sozialisten verstehen, so profitiert das Nachdenken über einen europäischen Sozialismus im 21. Jahrhundert sehr wesentlich von diesen Erfahrungen.

Aus diesen sehr unterschiedlichen Quellen und Erfahrungen speist sich heute das Nachdenken über die Perspektiven des Sozialismus im 21. Jahrhundert. So ist es notwendig zur Selbstverständlichkeit geworden, dass neben der schon genannten Grundlehre aus den Erfahrungen mit dem Sozialismus im 20. Jahrhundert – der Unteilbarkeit von bürgerlichen und sozialen Freiheitsrechten -der Pluralismus der Meinungen in der innerparteilichen Diskussion ein hohes Gut ist. Auf die komplizierte gesellschaftliche Situation des entwickelten neoliberalen Kapitalismus hat niemand die umfassenden und allgemeingültigen Antworten. Daher stehen auch in der Partei der Europäischen Linken verschiedene Lösungsansätze nebeneinander. Aus ihrer Diskussion versucht die Europäische Linke gemeinsame Antworten und Angebote an die Gesellschaft zu entwickeln, die Alternativen zur neoliberal orientierten Gesellschaft in Europa und in der Welt aufzeigen – demokratischere, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltigere, sozial gerechtere, auf mehr Gerechtigkeit zwischen Geschlechtern gerichtete.

Die Frage ist: Wie entwickeln wir eine Gesellschaft, in der Freiheit und Gerechtigkeit durch Solidarität versöhnt sind?

Die Linke in Europa befand sich nach der der historischen Zäsur von 1989 in einer tiefen Krise. Bis heute agiert sie aus der gesellschaftlichen Defensive heraus. Aber die Stimmen, die nach einer anderen Welt, nach Alternativen zum neoliberalen Zeitgeist fragen, werden lauter. Und diese Alternativen sind notwendig: Der gegenwärtige Kapitalismus verwirklicht, was im Kommunistischen Manifest schon prophetisch beschrieben wurde. Ich zitiere (leicht gekürzt): „Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt… Weil sie zu viel Zivilisation, zu viel Lebensmittel, zu viel Industrie, zu viel Handel besitzt. Die Produktivkräfte… sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden… Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“

Der globale Wettbewerb um niedrige Steuern, Rentenkürzung und Dequalifizierung kennt nur einen einzigen Gewinner, das Finanzkapital. Es macht sogar noch mit dem Verkauf eines ausgeschlachteten Unternehmens Rendite. Da kämpft nicht einmal Wirtschaft gegen Politik, da wird zuerst unternehmerische Substanz zerstört, die wirtschaftliche Kraft in den Regionen, die Chance auf selbsttragende ökonomische Strukturen, die Kraft für Umbrüche in sozial-ökonomische Beschäftigungswelten minimiert. Politik hat nach solchen Verwüstungen keine Gestaltungsmacht für die Zukunft mehr. Politik ist selbst – wie Fausto Bertinotti deutlich entwickelt hat – in der Krise. Das kann eine europäische Linke, das werden viele Menschen auch aus anderen gesellschaftlichen Spektren nicht zulassen. Um einen modernen Widerstand und politische Gestaltungskraft zurückzugewinnen, ist mir wichtig, dass die europäische Linke ein plurales Parteiprojekt ist und die eingeschlagene Richtung weiterentwickelt. Wir können die großen Herausforderungen nur packen, wenn wir z.B. die Erfahrungen von Gewerkschaftern mit den Ideen der freien Softwarebewegung zusammenbringen, wenn wir die sozialen Kämpfe in den Städten und auf dem Land, die freie Forschung und Lehre an den Universitäten gemeinsam mit Friedensbewegungen und Umweltinitiativen verteidigen. Wir brauchen diese unterschiedlichen politischen Erfahrungen, um – wie Fausto Bertinotti sagt – am Aufbau einer kritischen Masse mitzuwirken, die mit ihren politischen Alternativen gehört wird und in die gesellschaftlichen Debatten eingreift.

Was wir vor uns haben, hat Fausto in seinem Beitrag „Massa Critica. E nuovo soggetto Politico. Come correre e cercare la strada“ so zusammengefasst: „Wir müssen uns schnell bewegen und dabei den Weg suchen“, wenn ein neues politisches Subjekt entstehen soll. Fausto Bertinotti fragte in seinem Beitrag, woher die offene Identität für eine Alternative kommt. Vielleicht ist meine Antwort etwas simpel, aber ich finde wir müssen nicht solange danach suchen. Nehmen wir das, was für kulturelle Begegnungen längst gilt, mit in die harte Arbeit der Transformationsanalyse des globalisierten Kapitalismus, des Sozialismus im 21. Jahrhundert, nämlich die Identität der Offenheit für andere Erfahrungen, andere Kulturen, andere Lösungsansätze – alles für ein gemeinsames Ziel.

Die Linke muss auf ihrer Suche nach dem Sozialismus im 21. Jahrhundert die Frage nach den wirtschaftlichen Grundlagen einer gerechteren Gesellschaft beantworten – einer wirtschaftlichen Grundlage, die die Basis für die angestrebte soziale Gerechtigkeit bietet und gleichzeitig die natürlichen Ressourcen erhält und nicht verbraucht . Sie muss über ein neues Verhältnis von Staat, Markt und Zivilgesellschaft nachdenken – eine wichtige Frage modernder sozialistischer Theoriebildung -, indem zeitgemäße Funktionen einer verantwortungsvollen Staatsmacht, die gesellschaftlich kontrolliert wird, die Mitsprache der Zivilgesellschaft und die zivilisatorischen Fortschritte des Marktes zur Geltung kommen. Zugleich muss die Linke Konzepte entwickeln für Bildung für alle Menschen in einer sich immer schneller verändernden Welt, für kulturelle Vielfalt in einer Welt, die immer mehr zusammenrückt und in der der neoliberale Kapitalismus auch Kulturgüter den Verwertungsinteressen unterwirft, und sie die friedliche Lösung internationale Probleme als lnnovationspotential der gesellschaftlichen Entwicklung begreifen.

So setzt die Europäische Linke in der Politikentwicklung auf die Chancen, die die Globalisierung neben ihren wohlbekannten Risiken auch bietet, ebenso die der europäischen Integration, auf Freiheit und Gerechtigkeit, eine ökologisch nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, Demokratisierung und Geschlechtergerechtigkeit.

[Beijing, 11.09.2009]

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